1919 beauftragte Emil Molt, der Direktor der Waldorf-Astoria Zigarettenfabrik in Stuttgart Rudolf Steiner (1861-1925) damit, eine Schule für die Kinder der Fabrikarbeiter zu gestalten.
In der Gründung dieser ersten „Waldorfschule“ auf der Uhlandshöhe wirkte ein Impuls sozial verantwortlichen Unternehmertums zusammen mit dem Ziel, im Zuge einer umfassenden gesellschaftlichen Erneuerung nach den Zerstörungen des Ersten Weltkriegs ein freies Kultur- und Geistesleben zu etablieren.
Steiner hatte als Privatlehrer eines als unbeschulbar geltenden hydrocephalen Kindes, dem er auf den Weg einer erfolgreichen Bildungsbiographie half, wie auch in seiner mehrjährigen Arbeit in einer Berliner Arbeiterbildungsschule pädagogische Erfahrung gesammelt. Seit 1906 hatte er sich in einer Reihe von Vorträgen ausführlich mit Fragen der Pädagogik auseinandergesetzt und seine Ideen 1907 in der Schrift „Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft“ publiziert.
In der historischen Umbruchsituation am Ende des Ersten Weltkrieges beschäftigten Steiner intensiv Gedanken zur „Dreigliederung des sozialen Organismus“. Eine der Ursachen für die Entwicklungen, die in die Katastrophe des 1. Weltkrieges geführt hatten, sah er in der einseitigen Abhängigkeit des Rechts- und Geisteslebens von den Verhältnissen des Wirtschaftslebens. Für die Zukunft wünschte er sich, dass das Rechts- und Geistesleben als „selbständige Glieder des sozialen Organismus [...] neben dem Wirtschaftskreislauf“1 sich entwickeln sollten. Für das Schulwesen bedeutete dies, dass Steiner es als Institution des freien Geisteslebens aus der Vormachtstellung des Staates herausgelöst sehen wollte.
Ausgerichtet darauf, die individuelle Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu fördern, ihnen den Weg zu Selbstbestimmung in verantwortungsvoller Freiheit zu öffnen, sollte die pädagogische Arbeit der Waldorfschule auch „in ihrer eigenen Organisation und vor allem auf dem Feld des Unterrichtsangebots frei sein [...] von den Bestimmungen eines hierarchischen Verwaltungssystems und einer ihr übergeordneten Kultusbürokratie.“2
Für den inneren Aufbau der Waldorfschule hieß dies, dass sie als „Lehrer-Republik“ konzipiert wurde, in der niemand sich auf dem Ruhekissen von „Verordnungen, die vom Rektorat kommen“ ausruhen kann, sondern jeder „voll verantwortlich sein [muss]“3. In diese Verantwortung der Selbstverwaltung teilen sich inzwischen seit langem auch die Eltern der Waldorfschulen und in einem der Persönlichkeitsentwicklung entsprechenden Umfang die Schülerinnen und Schüler der höheren Klassen. Nach außen hin zeigt sich die Betonung der Schulautonomie u.a. darin, dass sie auch im Verhältnis zu den eigenen Dachorganisationen der Waldorfschulen (Landesarbeitsgemeinschaften, Bund der Freien Waldorfschulen) stark beachtet wird.
Im Verhältnis zu den Institutionen staatlicher Schulaufsicht erlangen Waldorfschulen entsprechend den unterschiedlichen Gegebenheiten nationaler und regionaler Gesetzgebungen und Verwaltungspraktiken in unterschiedlichem Ausmaß Autonomie.
In Deutschland haben die Waldorfschulen eine weithin anerkannte Stellung, die ihnen in vielen Belangen eine selbstbestimmte Gestaltung ihrer pädagogischen Arbeit ermöglicht. Allerdings findet diese Selbstbestimmung dort eine Grenze, wo es um die Zugangsberechtigungen für weiterführende Bildungswege geht. Um die dafür fast durchgängig erforderlichen, staatlich anerkannten Abschlüsse zu erwerben, ist es weithin notwendig sich sowohl in den Prüfungsinhalten als auch in den Prüfungsformen an die Vorgaben des Staatsschulwesens anzugleichen.
Die 1919 auf der Uhlandshöhe als „einheitliche Volks- und Höhere Schule“ eröffnete Waldorfschule, war koedukativ, was damals für höhere Schulen keineswegs selbstverständlich war; sie stand Kindern von Eltern aus allen sozialen Schichten offen und kann mit ihrem zwölfjährigen Bildungsgang ohne „Auslese“ als erste Gesamtschule gelten.
Diese Schule wirkte als Vorbild. Bis zum zweiten Weltkrieg wurden in Deutschland, der Schweiz, Holland, England, Norwegen und Schweden, in Ungarn, Österreich und den USA unter unterschiedlichen Namen 34 weitere Waldorfschulen gegründet. 1985 gab es 305 Schulen in 23 Ländern. Seit Mitte der 1980er Jahre, also in der Zeit, in der auch unsere Schule gegründet wurde, kam es zu einer weltweiten Welle von Waldorfschulgründungen. Heute ist die „Waldorfschulbewegung [...] mit etwa 1.100 Schulen und über 2.000 Kindergärten zur größten freien Schulbewegung weltweit geworden.“4
1 Rudolf Steiner „Die Dreigliederung des sozialen Organismus, eine Notwendigkeit der Zeit“. In: Ders.: Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus und zur Zeitlage 1915-1921. Dornach/Schweiz 1961, S. 19. – Steiner ergänzt: „Die Einheit des ganzen Organismus wird dadurch gewiß nicht gefährdet; denn diese Einheit ist in der Wirklichkiet dadurch begründet, daß jeder Mensch mit seinen Interessen allen drei Teilorganismen angehört [...]“. (ebd., S. 21)
2 Tobias Richter (Hg.): Pädagogischer Auftrag und Unterrichtsziele – Vom Lehrplan der Waldorfschule. Stuttgart (4., erweiterte und aktualisierte Auflage) 2016, S. 38.
3 Rudolf Steiner: Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik. Rudolf Steiner Online Archiv: http://anthroposophie.byu.edu 4. Auflage 2010, S. 2.
4 Nana Göbel: Wie alles begann. Die Geschichte der Waldorfschule. http://www.waldorf-100.org/geschichte/ [20.8.2017]